Der Zauber von Vermunt
Es gibt kein Gebiet in Vorarlberg, wo über 2000 m Seehöhe so massiv in die Natur eingegriffen wurde, wie im Gebiet um den 1943 aufgestauten Silvrettasee an der Südspitze Vorarlbergs. Straßen, Hotelbauten, Druckrohrleitungen, Parkplätze, Stromleitungen, Schilifte und anderes beeinträchtigen den Blick auf die Natur. Und trotzdem, wer die Wege verlässt, kann noch das Vermunt früherer Jahrhunderte erleben...
Ende September 2004 kommen Hanno Thurnher und Jens Weber nach Vermunt um erstmals zu sondieren. Früh sind sie gestartet und die beiden erreichen die noch unbesetzte Mautstation. Dann geht es über die Serpentinen der Silvrettahochalpenstraße hinauf zum Vermuntstausee. Vorbei an den ehemaligen Weiden von Großvermunt, längst zugewachsen mit großen Latschenbeständen und einigen Moorbirken und Zirben. „Stopp, hier will ich schnell was machen, dreh um!“ Weber dreht um und fährt zurück und stellt das Auto bei einer Ausweiche ab. Beide wechseln die Straßenseite mit Kamera und Stativ. „Schau dir diese Natur an, unglaublich“, Thurnher verzückt. Auch Weber ist angetan, obwohl es noch sehr früh ist für Begeisterung. Völlige Stille beherrscht das Szenario, nur ab und zu ein einzelnes, kurzes Vogelgezwitscher und ein Bach aus der Ferne. Doch plötzlich ein komisches Geräusch: Als würde ein Auto über Kies langsam anrollen. Beide drehen ihre Köpfe zusammen, schauen sich tief in die Augen, um dann beschleunigt ihren Blick zum Kleinlaster zu werfen und sie wollen es nicht glauben! Tatsächlich setzt sich das Auto in Bewegung. „Um Gottes Willen, das darf doch nicht wahr sein!“ Doch plötzlich ein dumpfer Aufprall, aber nicht auf hartem Untergrund, nein, auf Moos oder was anderem, sehr Weichem. Und tatsächlich steht das Kleinlaster wieder. Beide drehen wieder die Köpfe zurück. „Die Handbremse vergessen, ich glaub es nicht,“ Thurnher verärgert! Weber, “kein Problem, man soll immer zum Berg einschlagen.“ „Das war doch reines Glück, da steht kein Berg, nur ein, teilweise mit Moos bewachsener, Hügel!“ Nach der Fahrzeugsicherung müssen beide lachen. Thurnher: „Stell dir vor die Karre wäre hier runter, nicht auszudenken. Erst langsam, dann immer schneller, erst noch getragen von den Latschen hin und her hüpfend wie auf einem Trampolin und dann mit voller Wucht gegen den Felsen, da unten links, völlig zerbeult, zerschmettert! Die Kranteile herausschleudernd in alle Richtungen und ein Loch in die Rohrleitung schlagend vom schweren Mittelteil und das “weiße Gold” herausschießend, fontänenartig! Ein Schaden, riesenhaft, ganz zu schweigen von den Schlagzeilen in den Zeitungen weit über das Land hinaus! Ich glaube, das wäre es gewesen, hier in Vermunt! Die hätten uns nicht mehr wollen, die Illwerkler! Aber Prinz Jens hat das Glück des Tüchtigen.“
Nach einer kurzen, aber intensiven Suche ist bald ein idealer Standpunkt für einen Kamerastandort gefunden. Einer der die einsame Welt von Vermunt eindringlich zeigen soll und in die Welt des ausgehenden 18. Jahrhunderts eintaucht. Als einst zwei reformierte Pfarrer aus Graubünden die Welt des hintersten Montafons für sich und die Nachwelt entdeckten: Hinter dem Alpengasthof Piz Buin. Das Gelände ist eben und mit dem Kleintransporter gut erreichbar. Schnell wird der Kran ausgeräumt und aufgebaut, erste eindrückliche Bilder entstehen. Danach wird pausiert und gewartet, denn Thurnher vermutet hier noch eine besondere Lichtsituation. Doch an diesem Tag passiert nichts mehr.
Am nächsten Tag kommt Thurnher mit dem PKW allein zurück. Er hat sich vorgenommen, so richtig einzutauchen in das untergegangen Großvermunt, vor die Zeit der Kraftwerksbauten und damit vor die Zeit des Silvrettasees und seiner Entwicklung mit Energienutzung und Tourismus. In eine Welt, als hier noch Bauern aus Galtür und dem Prätigau - nicht immer friedlich – ihre Kühe und Ochsen hüteten. Für die Montafoner hatte dieses Gebiet bis zum Bau der Silvrettahochalpenstraße (1953) keine Bedeutung. Die Sonne verschwindet in den späten Septembertagen bereits früh hinter der hohen Gebirgsmauer der westlichen Silvretta. Kurzzeitig wird das Licht bläulich kalt und es zieht ein leichter Wind durch das Tal. Kalt wird es, die Hochmoore und die Steppenlandschaft von Vermunt verlieren schlagartig ihre Farbenpracht und alles wird in eine farblose Monotonie getaucht Das trockene, fahle Gras wird vom Wind sanft gestreichelt. Plötzlich erinnert die Bergwelt an die Tundra. Allein schon die Färbung lässt einen frösteln. Thurnher erwartet keine Besserung der Lichtverhältnisse und will die Kamera schon einpacken, da plötzlich wie aus dem Nichts, flammt ein intensives rötlich-violettes Föhnlicht durch das Tal und erhellt die dunklen, düsteren Gesteine in ihren letzten Fugen. Das trockene, helle Gras, die kleinen Tümpel, alles leuchtet in diesem kaum zu beschreibenden Farbton, als hätte man Großvermunt künstlich ausgeleuchtet. Es ist wie ein Eintauchen in eine Welt, wie sie vor 5000 Jahren existierte – als es hier bedeutend wärmer war und als es hier keine Gletscher gab. Es ist kein zivilisatorischer Ton, kein Bachrauschen mehr zu hören. Nur der Wind pfeift leise über die Steppenlandschaft von Großvermunt. Als hätte die föhnige Lichtstimmung alles erwärmt. Ein Hauch Erdgeschichte wird spürbar, im ältesten Teil des Landes, vor unglaublichen 2 Milliarden Jahren entstanden. Alles wird in der kurzen Phase dieses außergewöhnlichen Abendföhns spürbar. Wer hier keine Emotionen spürt, lebt nicht. Eine kurze intensive Phase, die die menschliche Existenz der Lächerlich preisgibt – aber sie dauert nur ein paar Augenblicke, zu kurz, um gedanklich richtig einzutauchen zu können. Das Licht flaut ab und wird fahl und die Herbstkälte zieht über Vermunt. Mit dem Lichtwechsel ändern sich auch die Gedanken: „Wie sollen wir in dieser Bergwelt bestehen. Das ist eine ganz andere Kategorie, im Vergleich zum Bregenzerwald und auch zum Arlberg – das ist richtig hochalpin. Man sieht den Bergen geradezu die Humorlosigkeit an. Kein Sarkasmus verträgt diese Welt, kein Späßchen, keine Unachtsamkeit. Düster blicken einen die dunklen Formationen des Kristallingesteins an. Hier ist bitterer Ernst von Nöten, nur der Geübte, der Trainierte, der, der lange gelernt hat, kann sich hier behaupten. Und dann noch die Gletscher, noch unberechenbarer und ungleich gefährlicher als alles andere. Um Gottes Willen, ist das hier nicht drei Nummern zu groß? Alles nur mit Bergführer zu bewältigen. Das geht auch nicht, das halte ich nicht aus, einem immer nachrennen und alles mir sagen zu lassen, auch wenn es seine volle Berechtigung hat. Nein, das muss auch anders gehen. Noch bliebt Zeit. Erst sind es Kranaufnahmen an den Staumauern, eine Tour auf den Bielerkopf und ein erstes schnuppern im Gletscher, mehr nicht. Im Frühjahr 2006 soll es auf den Piz Buin gehen, das ist noch lang. Davor wird das gemacht, was möglich ist und im Arlberggebiet gibt es noch viel zu tun“, beruhigt sich Thurnher, packt zusammen und fährt heim. Noch einmal flackert ein warmes Licht durch Vermunt, als gäbe es ihm ein wenig Hoffnung für die nächsten Monate. Die Bergwelt hat ihn gepackt und gleichzeitig auch tiefen Respekt verschafft!
Am übernächsten Tag kommen Mike Bertschler und Hanno Thurnher nach Vermunt. Erst heißt es eine „Morgenübung“ zu machen, bevor man hineinzieht in die Silvretta. Eine großartige Herbststimmung hat sich über die Bergwelt gelegt. Rostbraune Steppe vor tiefblauem Himmel - links und rechts ragen die dunklen kristallinen Berge von Hohem Rad und Lobspitzen in den Himmel - was für ein Kontrast. Der Kranarm gleitet knapp über die dünnen Gräser, die sich sanft im leichten Wind bewegen. Die Tiefe des Raumes wird spürbar. Als gleite man in die Geschichte Vermunts. Im Zentrum des Bildes, ein großer Stein, der das direkte Dahinter versperrt. Ganz langsam hebt sich die Kamera und der blütenweiße Egghorn-Gletscher tritt ins Zentrum. Die Kamera gleitet langsam über den Stein und es taucht der grün-türkische Silvrettasee am unteren Bildrand auf, immer stärker hervortretend. Gleichzeitig wird das Zivilisatorische sichtbar und die Kamera kommt ganz langsam, kaum spürbar zum Stehen. Was für ein Bild: eine Zeitreise - von vor 250 Jahren in die Gegenwart - in einer 15-sekündigen Einstellung - grandios. „Sehr kunstvoll geschwenkt, Herr Bertschler, sehr gut“, bedankt sich Thurnher. Nach einer Stunde packen die beiden zusammen, lassen den Kran stehen und machen sich auf den Weg ins Ochsental. Nach mehreren Aufnahmen auf dem Weg, kommen sie am späten Nachmittag auf der Wiesbadener Hütte an. Es ist Anfang Oktober 2005. Der Hüttenwirt Heinrich Lorenz verrichtet die letzten Arbeiten bei der Hütte, denn am morgigen Tag wird sie geschlossen. Er bietet dem Team den Winterraum an, falls man den Weg ins Tal nicht mehr antreten will, oder kann. Nach kurzem Gespräch geht es zur Grünen Kuppe, ein Hügel, der auch während des Höchststandes der Gletscher aus dem Eis ragte. Noch vor gut 100 Jahren waren Vermunt- und Ochsentaler Gletscher unterhalb der Grünen Kuppe miteinander vereint. Heute liegen die beiden Gletscherzungen hunderte Meter voneinander entfernt. Die Moränen legen Zeugnis ab! Von hier hat man einen gewaltigen Blick auf den Ochsentaler Gletscher. Unmittelbar hat der Himmel zugezogen und sich eine geschlossene Wolkendecke gebildet. Es ist fast totenstill, keinzivilisatorisches Geräusch, nichts, nur aus der Ferne hört man einen Bach rauschen. Beide gehen Richtung Gletscher. Doch plötzlich vernehmen sie ein Geräusch – ein Gurren. Und bei genauem Blick sehen sie ein Schneehuhn. Plötzlich trauen sich mehrere Schneehühner aus der Deckung. Kaum zu erkennen, in ihrer genialen Tarnung! Ein Schneehuhn hat bereits die Tarnung des Winters angenommen und ist fast völlig weiß. Nach ein paar Aufnahmen verschwinden die Tiere in der Versenkung. Danach geht es weiter in der Steinwüste. Und dann betreten die beiden das erste Mal das Eis! Es ist nur ein Antasten, ein vorsichtiges. Eine Schneedecke hat sich vor ein paar Tagen schon auf die Eisschicht gelegt und erleichtert das Vorankommen auch ohne Steigeisen. Bertschler hat sich kleine Eisen über die Schuhe gezogen, aber sie nützen wenig. „Hier sollen wir hoch in gut einem Jahr, das kann ja heiter werden”, Thurnher voller Respekt und leichter Resignation. Dann wird ausgepackt und ein paar Bilder vom Ochsentaler Gletscher entstehen. Danach geht es weiter, bis sie zu einer Gletscherspalte kommen. Beide blicken in den Schlund. „Um Gottes Willen, das sieht man ja nicht bis zum Boden. Da stecken sicher menschliche Skelette unten, aus den letzten 300 Jahren. „Jawohl, Herr Professor, erwidert Bertschler. Aber Thurnher lässt nicht locker. „und der letzte der da reinfiel und nicht mehr gefunden wurde, war wohl der Bergführer Erwin Zangerle in den Märztagen des Jahres 1959, wer weiß, wo der liegt… „Los Schluss jetzt, du Märchenonkel, weiter“ noch einige Meter wagen sich die beiden vor um dann umzudrehen.
Als beide über den Kamm bei der Grünen Kuppe wieder die Wiesbadner Hütte sehen können, kommt es zu einer grandiosen Abendstimmung. Nochmals pausieren sie und bewundern das grandiose Licht. Dann schaut Thurnher hinauf auf den Bruch des Ochsentaler Gletschers und plötzlich erfasst ihn etwas, was ihn elektrisiert und nicht mehr loslässt: Ein Gedanke, eine Einstellung, ein Vorhaben! Etwas, was ihn packt und ihm keine Ruhe mehr lassen wird! Bertschler sieht zu ihm hinüber und fragt: „So, hast du Blut geleckt, sicher was Größenwahnsinniges, das wir wieder ausbaden müssen?“ „Ich bin noch am Überlegen“, entgegnet Thurnher. „Wieso nicht den Phoenix-Kran mitten hinein in den Gletscherbruch, dort wo er sicher steht und mehrere Aufnahmen möglich sind, vor der Kulisse des Piz Buin. Eine gewaltige Szene im Dämmerlicht – ein Symbol der Eiszeit – als Anfangsszene, was für ein Bild für die Ewigkeit!! Das will ich - nicht morgen, nicht übermorgen, aber gegen Ende der Produktion, wenn wir sattelfest im Hochgebirge sind!“ „Steigeisen wären erstmals wichtiger als solche Spinnereien, würde ich sagen“, erwidert Bertschler. “Wir werden sehen“, Thurnher abschließend. In der Dämmerung stolpern die beiden müde zum Silvrettasee hinab und am Ende dem See entlang. Hell erleuchtet der Berggasthof Piz Buin. „Dort trinken wir noch ein Bier, sollte noch offen sein und Gäste da sein!“ „Gute Idee.“ Und tatsächlich sind noch Hotelgäste anwesend. Bald ist man im Gespräch. Das Bier fließt, auch Schnäpse, eine Frau spielt vorzüglich Akkordeon, im Goiserer Stil. Es geht rund. Der Chef bietet noch ein günstiges Zimmer an, aber die beiden pochen auf den Schlaf in freier Natur. Um 1:30 Uhr treten sie in die kalte Nacht. Der Alkohol „fährt“ voll ein. Beide wanken, sich gegenseitig stützend, lallend und lachend Richtung Schlafplatz. „Um Gottes Willen, wird das Morgen ein Tag“, prophezeien sich beide! „Ich werde keine Gnade mit dir haben“, der letzte grade Satz von Bertschler.
Thurnher kommt dem zu vor und schafft es früher aus dem Schlafsack und macht noch ein Foto für die Ewigkeit, Bertscher im Schafsack auf dem Betonfundament des Schleppliftes. Es dämmert, als die beiden das Frühstück einnehmen, zitternd vor Kälte oder ist es doch der Restalkohol? Dann geht es mit der Ausrüstung auf den Bielerkopf. „Nie wieder einen Schnaps, das ist einfach nichts für mich”, Thurnher nach ein paar Metern „Los vorwärts du Schwachmatiker“ „ja, dass, das dir nichts ausmacht ist ja klar.“ „Vorwärts, du Weichling.“ „Nerv mich jetzt nicht!” „Los, du Pfeife!” Doch irgendwie schaffen es die beiden und genießen den Ausblick über die Bergwelt und den Silvrettasee nach den Aufnahmen. Nach einer halben Stunde heißt es wieder hinunter, zur
nächsten Baustelle.
Unten am Silvrettasee herrscht schon reger Betrieb. Es wird bereits der erste Landungssteg aus dem Wasser gehoben. Der Bootskapitän Stefan Schindlecker führt das Kommando. Es ist ein alljährliches Spektakel, wenn Anfang Oktober alles winterfest gemacht wird am Silvrettasee und am Ende das Silvrettaboot aus dem Wasser gehoben und auf einen Tieflader gepackt, um dann auf den engen Kehren ins Tal gebracht zu werden. Aber heuer ist es ein wenig hektisch, denn es wurde ein wichtiges Werkzeug im Tal vergessen. Auch sonst läuft nicht alles glatt. Dann entgleist auch noch der Wagen, der mittels Seilzugs, die schweren Teile aus dem Wasser zieht. Aber Schindelecker und sein Begleiter heben ihn in einem schier unfassbaren Kraftakt wieder ins Gleis zurück! Auch die entscheidenden Abläufe später funktionieren tadellos und bald steht das Schiff auf dem Tieflader. Als die beiden den Tieflader über die Serpentinen betrachten und er unten verschwindet packen auch sie ihr Zeug zusammen und fahren zurück. Doch Thurnher kommt noch einmal zurück vor der Wintersperre, um auch noch ein paar düstere Spätherbstbilder einzufangen und um nochmals an spektakuläre Föhnbilder zu kommen, aber auch um auf den Gletscher zu blicken, der ihn gefesselt hat und nicht mehr loslässt…