In der Schneehölle
In den ersten Märztagen des Jahres 2006, dieses so aussergewöhnlichen kalten und ereignisreichen und am Ende auch noch sehr schneereichen Winters, erfordert nochmals die ganze Kraft. Für den 3. Tag des Monats sind große Schneemengen angesagt. Thurnher und Bertschler machen sich auf den Weg zu einer Tour an der Arlbergbahnstrecke, die schnell waghalsig wird und ihnen noch lange in Erinnerung bleibt.
Tief winterlich präsentiert sich Vorarlberg in den ersten beiden Märztagen des Jahres 2006. Aber der 3. Tag des Monats sollte noch einmal alles in den Schatten stellen, was der intensiveWinter 2005/2006 bis jetzt mit sich gebracht hatte: 40-50 cm Neuschnee werden im Radio angekündigt und mit massiven Verkehrsbehinderungen wird gerechnet. Bei solchen Meldungen kann Thurnher abends kaum einschlafen, und bereits um 4 Uhr früh springt er aus dem Bett. Durch die aktuelle Lage verspricht er sich Aufnahmen, die das Team bereits absolviert hat, aber jetzt noch mehr Intensität und Exklusivität versprechen und das Alte bei weitem in den Schatten stellen. Und es muss schnell gehandelt werden, bevor Straßen gesperrt werden. Spontan meldet er ich um halb 7 Uhr früh bei Mike Bertschler: „Wie sieht es aus bei dir, eine kleine Tour an die Arlbergbahnstrecke gefällig?“ Bertschler, wie immer flexibel. Als hätte er auf den Anruf schon gewartet, kommt bereits nach 20 Minuten zum Parkplatz, nichts ahnend auf was er sich einlässt. Wie die Kinder freuen sie sich auf das Abenteuer. Heute trinken wir ein Bier, wenn wir die Sache abgeschlossen haben – meint Thurnher kryptisch. Nach einer Stunde erreichen sie das Klostertal. Alles ist tief verschneit. Schon das erste Ziel ist mit dem Auto nur schwer erreichbar, denn die Straße zum ehemaligen Bahnhof Hintergasse, hoch über Innerbraz, ist noch nicht richtig geräumt. Die beiden schaffen es gerade (nach Bertschlers Schneekettenmontage) über den nicht ungefährlichen Weg zum aufgelassenen Bahnhof zu kommen. Ein paar Bilder vom Bahnhof bei starken Schneefall, dann rauscht schon ein Güterzug vorbei und wirbelt den noch nicht geräumten Schnee wie in einem nordischen Schneesturm durch die Luft. Einen Teil an die Bahnhofsfassade und der Rest in ihre Gesichter. Die beiden sind schon mal zu Schneemännern geworden. An ein Weiterkommen zu Fuß ist hier nicht zu denken. Zu hoch und zu gefährlich liegt die weiße Pracht. In weiterer Folge geht es mit dem Auto nach Wald am Arlberg, ebenfalls zum alten Bahnhof. Auf dem Weg sind schon mehrere Fahrzeuge liegengeblieben. Oben angekommen, wird gerade versucht den vielen Neuschnee mit dem Turmwagen der ÖBB, mit montierter Schneebürste, wegzuräumen. „Ein hoffnungsloses Unterfangen. Eine Frage der Zeit, bis der Klimaschneepflug kommen wird“, meint Thurnher. Auch hier wird es schwierig zu Fuß weiterzukommen. Dann fahren die beiden zum Bahnhof Dalaas. In der Zwischenzeit wird das versprochene Bier eingekauft. Drittes und letztes Ziel, welches Thurnher spontan für gute Winterbilder mit Eisenbahnbetrieb einfällt. Sein Plan: über das Muttentobelviadukt zum Schmidtobeltunnel und weiter über das gleichnamige Viadukt! Ein Notprogramm ohne fixen Ausgang und ungleich gefährlicher als die bereits absolvierten Drehorte! Denn hier ist der Weg auch ohne Schnee schon eine richtige Herausforderung. Der schnelle Einfall sollte Bertschler bei Laune halten, beunruhigt aber Thurnher selbst. Und schon schleppen sich die beiden mühsam Meter für Meter vorwärts durch den hohen Schnee. Aber sie kommen überraschender Weise schneller voran als gedacht, denn der Schnee ist für die Jahreszeit relativ trocken. Den Röckentunnel haben sie bald schon durchschritten, oder besser gesagt hurtig durchquert. Jetzt nähern sie sich in einer langen Geraden dem Schmidtobeltunnel. Dieser Tunnel befindet sich ca. 500 Meter entfernt Richtung Bludenz. Hier geht es an einem steilen Abhang entlang, gesichert durch ein Geländer, das nah bei den Schienen steht und zu gefährlich ist, um zu verharren! Der viele Schnee ist hier schon ein größeres Problem, denn es liegt auch vermehrt Altschnee. Es ist jetzt ein sehr zähes Fortkommen. Thurnher denkt sich noch: “Solange kein Zug kommt…” sein Pulsschlag ist merklich erhöht, da tauchen plötzlich Lichter im dichten Schneefall auf und schon ist das Gefährt durch sonderbare Geräusche identifiziert: “Der Klima-Schneepflug, das darf nicht wahr sein”, fährt es ihm durch alle Glieder. Kaum aus dem Tunnel fährt er Flügel und Schaufeln aus und räumt die Neuschneemassen erst vor sich her und dann schleudert er das meiste fontänenartig zur Talseite. „Hilfe, auch das noch, wir müssen in die Tiefe springen, sonst sind wir einbetoniert“. „Dann spingen´s doch, Herr Turnvater Jahn“, spottet Mike Bertschler. Thurnher klettert auf das Geländer, lässt den Rucksack hinunter in den tiefen Schnee plumpsen, schaut nochmals Richtung Schneepflug und ist verzaubert vom Schauspiel. „Ästhetik und Zweck: „Wann hat sich das faszinierender angesehen als jetzt in diesem Augenblick, welch ein optisches Spektakel, wie man mit der richtigen Flügel-Stellung nur soviel optische Faszination erzeugen kann und gleichzeitig die Arbeit erledigt, aber Schluss jetzt”, er nimmt einen riesigen Satz und stürzt sich über den tiefverschneiten Steilhang in die Tiefe. Er kugelt noch ein paar Mal im weichen Schnee und lacht, als er heil unten ankommt! Bertschler bleibt wie angewurzelt stehen und sieht das Ungetüm auf sich zukommen. Dann - ein greller Pfiff - der durch Mark und Bein geht - zu Tode erschrocken, springt er nach und stößt einen lauten, wilden Fluch aus! Thurnher grinst in sicherer Entfernung vor Schadenfreude. Dann rattert das Ungetüm hoch oben über sie hinweg und wirft die weiße Pracht in die Klostertaler Bergwälder. Bis zu ihnen dringen der Schnee. Die beiden schauen sich an, komplett mit der wissen Pracht zugedeckt. „Das kann ja heiter werden. Ein Zurück auf dem gleichen Weg ist jetzt schwierig, denn der Pflug hat erfahrungsgemäß den Weg neben den Geleisen zugeschüttet, versucht Thurnher die neue Situation zu erklären: „Du musst dir das vorstellen wie bei einer Sternenexlosion, einer Supernova - was nicht weg fliegt, wird dicht zusammengepresst” “Dicht? Da haben wir das Stichwort, aber du bist es eher nicht! Es ist immer das Gleiche – Chaos Thurnher!“ „Jetzt heißt es vorwärts zum Tunnel und dann weiter, da kürzer, aber auch gefährlicher!“ Erstmals müssen sich die beiden über den steilen Hang durch den hohen Schnee wieder zum Bahndamm hinauf mühen und hoffen, dass in nächster Zeit kein weiterer Zug mehr kommt. Immer wieder rutschen sie zurück auf dem schmierigen, steilen Abhang. Es ist ein Jammern, ein Schimpfen und auch ein Lachen, das das Mühsal der beiden beim Hochklettern begleitet. Während des Kampfes erinnern sie sich in einer kurzen Atempause, wie sie erstmals an die Arlbergbahnstrecke kamen, völlig hnungslos, aber spannend und jeder Tag ein neues Abenteuer. Unvergessliche Erlebnisse und man wußte nie wie der Tag bis zum Abend läuft - Streit oder Wahnsinn “Und jetzt das hier und das wegen eines unverbesserlichen Eiferers” entfährt es Bertschler. Am Ende ziehen sie sich an den letzten Wurzeln die sie unter dem Schnee finden, nach oben. Thurnher muss noch unter die Schutzmauer um den Kamerarucksack ausgraben, aber das ist gleich erledigt. Im Gleis zu gehen ist zu gefährlich und schafft auch keine Abhilfe. Auf den Schneemassen, auf denen sie immer wieder einbrechen, ist das Fortkommen unendlich beschwerlich, denn der Klimaschneepflug hat den Schnee, wie befürchtet, festgepresst. „Das ist ja völlig krank, hier durchzuwollen“ ärgert sich Bertschler.. Aber Thurnher will die Aufnahmen – um alles in der Welt! “Und ich falle immer wieder auf die Tricks herein. Wieder eine Schnapsidee bei der ich mitmache..“ „los, das geht schon“ entgegnet Thurnher - „dann geh du voran …. „
Meter für Meter quälen sich die beiden jetzt durch die Schneebarriere. Ein Ausweichen nach unten ist wegen der Steilheit nicht möglich und auch zu gefährlich, ein Weiterkommen nach oben versperrt eine Felswand. „Immer das Gleiche: Kapitän Planlos bringt einen in eine beschissene Situation“! „Wir müssen den Tunnel umgehen und dann über das Schmiedtobelviadukt..“ „Du spinnst ja“ - "Das wird schon gehen, hinter der Brücke ist eine gemütliche Hütte zum Aufwärmen, ein richtiges Knusperhäuschen – Holz gibt es da auch für den Ofen, du wirst staunen! Und da geht ein Weg zur Landesstraße hinunter und von dort nach Dalaas zurück“, weiss Thurnher aus anderen Einsätzen. Das Umgehen des Tunnels stellt sich als zu gefährlich heraus, Absturzgefahr - also durch. Sie warten bis ein Zug passiert hat. Davor gibt es noch ein paar Aufnahmen – inclusiv wie der herannahende Zug sich durch die Schneemassen schiebt. Die Kamera und das Stativ in den Händen haltend durchqueren beide zügig den Tunnel! Es bleiben ein paar Minuten bis der nächste Zug kommen kann. Auf der anderen Seite stehen sie dann unmittelbar vor dem Schmiedtobelviadukt.
Ein gut 120 Meter langer und knapp 60m hoher Kunstbau aus den 1880er Jahren. Aber die Schönheit des Baues interessieren die beiden im Augenblick nicht. „Das ist dann noch etwas risikoreicher, aber machbar“, meint Thurnher. „Aber sehen sollte es keiner, sonst gibt es Palaver“. * Jetzt beginnt es stärker zu schneien und die beiden warten mit Spannung auf den Zug, um danach gleich die Brücke zu passieren zu können. Die Hütte direkt neben dem Tunnel ist verschlossen. Es wird ganz leicht windig und unangenehm kalt. Immer mehr Schnee fällt. Bertschler wird schnell ungeduldig. Ein Begehen ist aber auch für ihn zu riskant. „Wann kommt endlich ein Zug?“ „Ein Güterzug müsste kommen“, meint Thurnher. „Ein Güterzug, jetzt kennt der ETCS-Fachmann auch schon die Fahrpläne der Güterzüge, soso.“ „Wenn der Herr Bertschler letztes Frühling ein wenig aufmerksamer gewesen wäre, hätte er bemerkt, dass sich so um 10:30 Uhr immer ein Holzzug hier heraufgequält hat.“ „Fürs quälen und knechten bist du zuständig, zumindest was das Personal anlangt, du Sklaventreiber!“ Es dauert eine Ewigkeit, Thurnher gibt nochmal den Tipp, sollte dann während man auf der Brücke ist, ein weiterer Zug kommen, wären Ausbuchtungen auf der Brücke, sollten die nicht erreicht werden, Rucksack runter und direkt ans Geländer pressen, über das Geländer springen ist zu riskant, denn es sind gut 55 Meter an der höhsten Stelle,“ fügt er ironisch dazu, „oder mit dem Rücken zum Geländer - und Nerven bewahren…“ „Ja, Nerven gewahren, da haben wir ja den Spezialisten dabei“, meint Bertschler sarkastisch. Erst einen in eine unverantwortliche Situation bringen, und dann auf Bahnmeister Juen machen, das habe ich gefressen!” Dann, nach langem Warten kommt endlich der Zug. „Ah, schauen jetzt die Holzzüge so aus?“ Bertschler spöttisch! „Dann muss das Holz abgeerntet sein“, Thurnher nie um eine Anwort verlegen. Die beiden stehen direkt neben der Brücke. Der letzte Waggon ist vorbei und los gehts. Zwischen den Geleisen, ein allgemeines no-go - aber in dem Fall das einzig Machbare, Rennen ist zu riskant, man stolpert schnell über die Schwellen. Schnelles gehen erfordert aber ernsthafte Nervenstärke. Eine Ewigkeit, ein Hupsignal -HILFE- aber das war unten auf der nahen S16. Der Schnee ist knöchelhoch aber Gott sei dank relativ leicht und schiebt sich vor sich her.. Aber die beiden brechen immer wieder im Altschnee ein. Bertschler flucht!
Mit den schweren Rucksäcken eine richtige Tortur. Es ist jetzt ein wahrer Blindflug, man sieht keine 20 m und die 120 m fühlen sich an wie ein Höllenritt in die Ewigkeit. Thurnher hat sich noch ein Notprogramm zu recht gelegt. Verlassen ihn die Nerven - sofort zur Ausweiche - dort auf den nächsten Zug warten und erst dann weiter. Das kann aber dauern und ist bei dem Schneefall und der Kälte eine Herausforderung. Aber Sicherheit geht vor. Und der Bertschler? Der muss sich selbst retten, dafür hat er sich schon des öfteren bewährt. Die fehlende Sicht macht die Sache zum Horrortripp. aber „Wir haben drei Minuten Zeit, in dieser Zeit kann nichts kommen, von unten nicht, der muss warten bis der Block frei ist - von oben geht es noch länger, da der Zug erst in Dalaas kreuzen muss“, redet Thurnher Bertschler ins Gewissen. „Jawohl Bahnmeister Juen erwidert Bertschler genervt und trotzdem schlägt das Herz bis zum Hals. „Mein Gott, wenn jetzt noch ein Pflug kommt“, rutscht Thurnher heraus. „Dachte immer du bist Jakobiner, die haben es nicht so mit Gott!“ „Gemässigt, „Weichgewaschen, verstehe, aber hier gibt man den harten Sklaventreiber - dann danke, geht ihm durch den Kopf. …Bertschler mekert vor sich hin „Immer ist was und ich mache immer noch mit....“ Endlich sieht man das Ende schemenhaft, Eine blaue Tafel „Schmiedtobelviadukt“ schnell noch die letzten Meter - es ist geschafft. Beide erreichen gleichzeitig das Ende der Brücke. Völlige Erleichterung ist den beiden ins Gesicht geschrieben, “wir haben es geschafft” . Noch ein paar Meter und die beiden lassen sich neben der Trasse in den Schnee fallen! „Geschafft“, „Wahnsinn, du bist irre, Thurnher!“, und Bertschler muss lachen! Durchgefroren und erschöpft betreten sie nach 10 Minuten den Eisenbahnerunterstand. „Ein Holzofen“ freut sich Thurnher - Bertschler übernimmt sofort das Komando „Weg da, das ist mein Feld - deine Welt ist die Zentralheizung, du Hoval-Thermo-Typ!“ Du holst das Holz draussen vor dem Schopf.“ Thurnher muss raus und die Holzscheiter unter der Plane hervor klauben. Und schon bort isch ein Holzsparn ist seine rechte Hand. Während Bertschler bereits die alten Zeitungen mit den Hölzern neben dem Ofen zum Brennen bringt, mit dem 1. Zündholz - versteht sich, zieht Thurnher das erste Bier aus dem Rucksack. „Eine Ausnahme, heute vor 4 Uhr, und lacht… Bis in den späten Nachmittag hinein sitzen sie in der warmen, gemütlichen Stube und erinnern sich an riskante Einsätze früherer Tage, während draussen der Schneefall sich weiter intensiviert. Doch plötzlich fährt es Thurnher in die Glieder: „Da ist kein Zug mehr vorbei gefahren, seit wir in den Hütte sind!“ „Stimmt, erwidert Bertschler, ob die wohl die Strecke gesperrt haben?“ „Auch der Schneepflug ist nicht mehr zurückgekommen“. Als sie dann die Hütte verlassen und zur zur Straße absteigen sehen sie noch den Klima-Schneepflug, wie er über das Viadukt fährt, aber da ist der Bahnbetrieb bereits lange eingestellt.
*Die Tour fand vor dem Unglück von Lochau (26. Dezember 2006) statt. Nach dem Zugunglück, bei dem in Lochau nach einem Suizid, ein Polizist und eine Polizistin, sowie ein Leichenbestatter bei der Spurensuche ums Leben gekommen sind, ändert die ÖBB ihr Sicherheitskonzept grundlegend. Auch das Filmteam überdenkt seine abenteuerlichen Drehs an der Bahnstrecke.
Einige dieser Bilder finden auch im Film "125-Jahre Arlbergbahn" ihren Platz.