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Höllenritt zur Mündung (2003)

Die meisten Badenden haben schon vor einer halben Stunde ihre Liegeplätze an der rechten Rheinmündung verlassen, denn weit draußen zieht eine gewaltige Wolkenfront auf. Ein unheimliches, gelbes Licht legt sich auf das gesamte Rheindelta. Wer ein wenig Ahnung von Meteorologie hat, weiß was das zu bedeuten hat: Hagel! Und Minuten später verdunkelt sich der Himmel in einer furchterregenden Geschwindigkeit. Eine geradezu apokalyptische Stimmung beherrscht das Gebiet an der Rheinmündung. Während die letzten Badegäste mit ihren Autos und Fahrrädern fluchtartig und zum Teil von lautem, schrillem Geschrei begleitet, das Gebiet verlassen, ist einer in die andere Richtung unterwegs: Hanno Thurnher! Er schließt gerade hektisch die Schranke an der rechten Rheinmündung auf. Der Schlüssel klemmt und schnell pumpt es ihm die Zornesröte ins Gesicht - „Nicht jetzt, verdammt noch mal - was soll das“, dann öffnet sich das Schloss aber doch und er würgt den Schlüssel aus dem Zylinder. Zum Zusperren hat er jetzt keine Zeit und lässt auch noch den Balken oben. „Da wird jetzt wohl kein weiterer Narr hinauswollen“, stürzt ins Auto und gibt Gas. Die Straße steigt zum Damm langsam an und es offenbart sich ihm jetzt das ganze Ausmaß des aufziehenden Ungemachs! „Um Gottes Willen“, erschreckt er erst, das sieht ja aus wie bei Carl Blechens „Stürmische See mit Leuchtturm“ - unglaublich - welch ein Nervenkitzel!“ Dann grinst er und steigt aufs Gas und fährt zügig auf dem Kiesdamm, seinem Ziel der Rheinmündung entgegen. Ob er es bis zum Leuchtturm schafft, weit draußen, mitten auf dem Bodensee, noch 4,5 km entfernt?“, fragt er sich und irgendwie überkommt ihn ein mulmiges Gefühl! Um dem Zweifel entgegenzutreten, drückt er mehr aufs Tempo. Vorbei an Holzkreuzen und Gräbern die an Tod und Verderben erinnern. An Menschen, die hier umgekommen sind, ohne Schuld, aus Sorglosigkeit oder gar Verrücktheit, wer weiß das schon genau. Aber Thurnher hat nur das Wetterphänomen im Kopf und sein ultimatives Bild. Der Mund bleibt ihm offen, als er die Front neben und vor sich sieht! „Wahnsinn, ein Wettrennen mit der Zeit, wer ist schneller, das herannahende Unwetter oder ich?“  Man kann in ihm plötzlich diesen „Jack Nicholson-Blick“ erkennen – den Wahnsinn im Gesicht!  „Jawohl“, schreit er!“ Jugenderinnerungen kommen auf - wenn sie bei aufziehendem Gewitter um die Wette geradelt sind vom Alten Rhein über die Schweizerstraße Richtung Hatlerdorf mit dem Ziel Hatlerstüble, eine kleine Gaststätte mit Alleinstellungsmerkmal, um dort tief in die Eiskiste zu greifen. Erst wartend bis die Gewitterfront nah genug war, um dann auf das Rad zu springen. Angetrieben durch den aufkommenden Sturm und den Kampfgeist. Manchmal hatten sie Glück, aber meist entkamen sie der Front nicht mehr. Was für ein Feeling, wenn der erste Regen auf den Asphalt planschte und diesen einzigartigen Geruch in die Nase trieb, der so untrennbar mit Abenteuer der Jugend verbunden ist wie kein anderer. Manchmal war es auch Hagel, die bleibende Erinnerungen, aber nie Schäden zurückließen.

Dann setzt Wind am Rheindamm ein, der sich blitzartig zum Sturm entwickelt! Ein warmer, trockener Sturm. Sand wird quer über den Damm getrieben, sichtbar wie ein wandelndes, rotgräuliches Leinentuch – gefolgt von einer Wasserfontäne, die es in sich hat und mit voller Wucht das Fahrzeug trifft. Thurnher hat das Fenster geöffnet und wird erst vom Sand und dann vom Wasser getroffen, er lacht und wird noch mehr befeuert in seinem Wahn! „Herrlich, was für ein Irrsinn!“ Er driftet leicht auf dem groben Schotter hin und her. „Thurnher, Vorsicht, hier holt dich keiner, auch nicht die gelben Engelein vom Wiener-Erdberg, höchstens der Teufel!“  Es ist jetzt kohlrabenschwarz, nur vorne eine messerscharfe helle Front über dem Bodensee. Er muss gar das Licht einschalten und reduziert das Tempo! Alles ist völlig menschenleer und plötzlich schlagen die ersten großen Tropfen an die Windschutzscheibe! Es klatscht richtig! „Das darf aber jetzt nicht wahr sein, so kurz vor dem Ziel, ich will da sein, bevor es losgeht!“ Der Sturm drückt das Fahrzeug leicht aus der Spur.  Dann erfasst eine weitere Gisch das Auto und knallt voll auf das Fahrzeug und auf ihn. Er schließt das Fenster. Der Scheibenwischer hat große Mühe die Wassermassen von der Scheibe zu schieben und Thurnher sieht kurz nichts mehr. Er schlägt mit der Faust auf das Lenkrad! „So ein Scheiß, verdammt, das gibt es nicht!“ Noch 100 Meter und der schmale, hohe Damm senkt sich ab und alles wird breit, geht über in die letzten 500 Meter vor der Mündung. Noch einmal steigt er im Gefühl, das sichere Territorium bald erreicht zu haben, aufs Gas. Immer mehr schlägt der Regen an die Scheiben. Die Geräusche nehmen zu und der erwartete Hagel setzt jetzt schlagartig ein und prasselt auf das Gefährt. Die Front, die sich vor seinen Augen abzeichnet und wie ein wehender Vorhang aussieht, verrät Schlimmes – „Das sieht nach Downburst aus, das kann laut Oberexperte Ted Fujita unlustig werden!“ Und tatsächlich, es wird noch schlimmer und Sekunden später, als er gerade die rettende Ebene erreicht, beginnt es zu krachen als gingen Granatsalven nieder! Man hört nur noch unendlichen Lärm. Wie ein Vorhang, der mehrmals Falten wirft und vom Wind bewegt wird, dabei ist es Regen und Hagel im Sturm, der im Staccato über den Damm getrieben wird, aber schon Sekunden später sieht man nichts mehr. Thurnher lässt das Auto ausrollen – Fast weint er vor Zorn es nicht geschafft zu haben. Er trommelt auf das Lenkrad ein und man hört keine Hupe mehr in dem unglaublichen Krach des Hagels. Er schreit was, aber er hört sich nicht, nochmals, wieder hört er sein eigenes Geschrei nicht, so laut krachen die Hagelkörner auf den Peugeot. Dann bringt er das Auto 50 Meter vor der Mündung zum Stehen. Die Karre wackelt durch den Sturm von der Seite und den Hagel von oben. Keine Sicht, nur ohrenbetäubender Lärm. Dann öffnet er die Fahrertüre. Es schlägt ihm halb den Arm ab. Eine volle Ladung Wasser klatscht ihm noch zusätzlich ins Gesicht, er schlägt die Türe wieder zu und versucht auf der dem Sturm abgewendeten Seite aus dem Auto zu kommen. Er setzt den Bauhelm auf, steigt aus und stemmt sich am Auto nach hinten. Aber der Regen und der Hagel sind zu stark. Er springt wieder ins Auto zurück, völlig durchnässt nach nur wenigen Sekunden. „Selbst wenn ich zu Kamera und Stativ gelange, was soll ich eigentlich filmen, man sieht ja nichts“, kommt ihm jetzt in den Sinn. Dann starrt er durch die Windschutzscheibe nach draußen: „Wenn der Hagel noch stärker wird, wie lange halten die Scheiben? Wer hier keinen Schutz hat, der ist verloren!“ Das Schauspiel dauert noch ein paar Minuten und fühlt sich an wie Stunden!
Aber dann, so schnell wie es begonnen hat, hört erst der Hagel auf und bald klatscht nur noch Regen auf Dach und Scheiben. Auch der Wind legt sich. Plötzlich sieht man auf die Rheinmündung, wie die Wellen aufeinander schlagen. „Gott sei Dank bin ich nicht auf See, oder gar in der Luft, meine Welt ist das Erdgebundene!“ Doch plötzlich, wie alles in einem ungeheuren Tempo gekommen ist, löst es sich in einer kaum begreifbaren Geschwindigkeit wieder auf. Es wird hell, der Regen hört ganz auf, die Gisch ist weg und wie aus dem Nichts, tritt die Sonne aus den abziehenden Wolken. Thurnher steigt aus dem Auto und sieht fassungslos Richtung Sonne. Innert kürzester Zeit ist auch das Wasser geglättet und schon bald schimmert das Bodenseewasser wie eine glatte Spiegelfläche vor ihm im rötlichen Abendlicht. Er geht einige Schritte nach vor und sieht sich jetzt selbst in einer imaginären Kameraeinstellung: „Was für ein Bild – im Vordergrund die grüne Karre und eine Person, die sich vom Fahrzeug entfernt und zur Mündung schreitet, die Kamera steigt hoch und weicht sanft zurück, der dunkle, flache Rheindamm wird sichtbar, erst mächtig und breit, dann immer kleiner und schmaler werdend und bald geht er in dieser goldenen, riesigen Wasserfläche auf und verschwindet fast zur Gänze, grandios! Und dahinter diese nicht zu beschreibende Wolkenstimmung, mit seinen einzigartigen Farb- und Lichtschattierungen und das Ganze musikalisch untermalt, vom Maestro Morricone, was für eine Szene. Thurnher setzt sich auf einen großen Stein, um die Stimmung zu genießen. Gedreht wird ein andermal, denkt er sich. Was hat er hier doch in den letzten knapp 365 Tagen für Wetterphänomene erleben dürfen, unvorstellbar an Fülle, Intensität und Schönheit, Stimmungswechsel in atemberaubender Geschwindigkeit, aber das hier schlägt dann doch alles um Längen und kann gar nicht so abgebildet werden, wie er es gerade erlebt hat. Eine ganze Weile sitz er noch da und träumt vor sich hin, bis er plötzlich Motorgeräusche vernimmt. Er dreht sich um und glaubt nicht richtig zu sehen, da nähern sich 3 PKW´s, alle mit Anhänger. „Das darf nicht wahr sein, die haben die offene Schranke bemerkt und wollen Schwemmholz holen!“

 

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